Goran Stevanovich
EIN ERGREIFENDES DEBÜT ZWISCHEN TRADITION UND MODERNE
Goran Stevanovich ist ein begnadeter bosnischer Akkordeonist und hat bereits zahlreiche nationale und internationale Preise gewonnen, darunter den Deutschen Akkordeon-Musikpreis 2012. Bekannt für sein außergewöhnlich breitgefächertes Repertoire, das von Alter Musik über Schubert, Bruckner, Mahler und Hindemith bis hin zu zeitgenössischen Komponisten reicht, wird er von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung als „Botschafter für die Vielseitigkeit seines Instruments“ gelobt. Am 16. Mai 2025 erscheint sein Debütalbum „Sarajevo“ bei Berlin Classics.
„Sarajevo“ ist sowohl der Titel als auch das thematische Zentrum des Albums. Für dieses Projekt hat der in Hannover lebende Künstler Werke von Komponisten wie Max Richter, Béla Bartók und Bryce Dessner ausgewählt. Dabei war es ihm wichtig, dass die Stücke einen Bezug zur Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina und ihrer bewegten Geschichte haben. Ergänzt werden diese Werke durch vier eigene Kompositionen („Der Asra“, „Bartók reframed“, „Takht“, „Kad ja podjoh“), die das Thema reflektieren. Das Ergebnis ist ein sehr persönliches Selbstporträt, für das Goran Stevanovich tief in die musikalische Tradition seiner Heimat eingetaucht ist.
Gleich zwei Werke auf dem Album tragen den Titel „Sarajevo“: eines vom britischen Komponisten Max Richter (*1966) und eines vom niederländischen Komponisten Guillermo Lago (*1960). Richters „Sarajevo“ entstand kurz nach dem Ende der Jugoslawienkriege und wurde ursprünglich für Orchester und Sopran geschrieben. Goran Stevanovich greift den traurigen und zurückhaltenden Charakter des Stücks in seiner gefühlvollen Bearbeitung für Solo-Akkordeon auf. Lagos „Sarajevo“, ein Werk für Saxophonquartett aus dem Zyklus „Ciudades“, ist den Freunden des Komponisten in Sarajevo gewidmet. Auch diese Komposition hat Stevanovich virtuos für Solo-Akkordeon adaptiert.
Geboren und aufgewachsen in Bosnien, erlebte Goran Stevanovich als Fünfjähriger den Ausbruch der Jugoslawienkriege – eine Erfahrung, die ihn tief prägte. „Als der Krieg begann, hat meine Mutter abends immer das Radio laufen lassen“, erinnert er sich. So wuchs er mit der traditionellen Volksmusik Bosniens auf – dem Sevdah, der auch als „Blues Bosniens“ bezeichnet wird. Diese Musik erzählt direkt von den Freuden und Leiden der Menschen. Schon als Kind spielte Goran Stevanovich diese Volksmelodien nach Gehör auf dem Akkordeon. Diese Einflüsse sind in seinen Arrangements und Eigenkompositionen deutlich erkennbar. Das kleine Land Bosnien, das bis ins 19. Jahrhundert Teil des Osmanischen Reichs war, wurde später von den Habsburgern geprägt, die die Tradition der europäischen Romantik mitbrachten. Diese unterschiedlichen kulturellen Einflüsse spiegeln sich in der bosnischen Volksmusik wider. Selbst Heinrich Heine schrieb einen Sevdah-Text: „Der Asra“. Dieses vertonte Gedicht ist bis heute auf dem Balkan bekannt und wird oft gesungen. In seiner Komposition „Der Asra“ greift Stevanovich diesen multikulturellen Hintergrund auf und verweist klanglich auf die Saz, eine Langhalslaute, deren Klang oft mit türkischer Musik assoziiert wird.
Goran Stevanovich möchte den Sevdah erneuern, ohne ihn zu verwässern. Dafür hat er akribisch zu den Ursprüngen des Sevdah recherchiert und zahlreiche authentische Werke in Archiven in London und New York entdeckt – ähnlich wie Béla Bartók (1881-1945), der mündlich überlieferte Volksmusik aus Ungarn und Rumänien sammelte und in Noten festhielt. Bartók hat etwa 50 Sevdah-Lieder dokumentiert. „Peasant Song“ ist eine solche Volksmelodie, die Bartók ursprünglich für Klavier arrangierte und die von Goran Stevanovich geschickt für Solo-Akkordeon adaptiert wurde. „Bartók reframed“ ist Stevanovichs Hommage an Béla Bartók: drei Konzertetüden (Sevdah-Verses I–III), die auf alten bosnischen Sevdah-Melodien basieren. Eine Besonderheit ist der Einsatz einer von Stevanovich selbst modifizierten Reedbox im Verse I. Dieses hölzerne Bauteil des Akkordeons, das in seiner Funktionsweise einer Mundharmonika ähnelt, wird von ihm wie ein Blasinstrument gespielt – eine raffinierte Klangerweiterung.
Kinan Azmeh (*1976), ein bekannter syrischer Klarinettist und Komponist, schrieb sein Werk „Prelude“ ursprünglich für Oboe. Goran Stevanovich hat es nicht nur auf das Akkordeon übertragen, sondern auch einen Bordun – einen Halteton zur Begleitung der Melodie – hinzugefügt. Dadurch entsteht ein reizvolles Klangfarbenspiel aus Dissonanz und Harmonie.
Das letzte Werk des Albums ist „Aheym“, ein Stück des US-amerikanischen Komponisten und Gitarristen Bryce Dessner (*1976), der auch Mitglied der Indieband „The National“ ist. Inhaltlich behandelt das Stück die Flucht der Großmutter des Komponisten in die USA nach der Oktoberrevolution in Russland. Ursprünglich für Streichquartett geschrieben, hat Stevanovich es für Solo-Akkordeon bearbeitet. Seine gefühlvolle Interpretation macht die gehetzte Flucht der Großmutter spürbar.
Mit seinem Debütalbum „Sarajevo“ gelingt Goran Stevanovich ein eindrucksvolles Porträt, das die reiche Kultur, Geschichte und Musik seines Heimatlandes in einem sehr persönlichen und farbenfrohen Licht präsentiert.